Es fällt mir gerade unglaublich schwer in der Liebe zu bleiben bzw. die Liebe anstelle der Angst zu wählen. Denn ich betrete gerade verbrannte Erde - zumindest für mich.
Trauer war ein Tabuthema, Tränen ein sichtbares Zeichen von Schwäche und Kontrollverlust, das es auszumerzen galt. Ich weiß nicht, wie mensch mit Trauer umgeht, sie fließen lässt und zum Ausdruck bringt. Ich habe das schlichtweg nie gelernt, geschweige denn vorgelebt bekommen. Meine Bilder, Vorstellungen und sog. Vorbilder zum Thema Trauer - trauern, traurig sein, weinen - stammen aus den Federn Disney’s, Hollywood‘s und der Märchenwelt. Kein Scheiß. Mein Erfahrungsschatz, auf den mein System zurückgreift, beläuft sich also auf patriarchale, sexistische und unnatürliche mediale Darstellungen, traumatische Erlebnisse im Elternhaus und die generelle Abwesenheit von Tränen im gesamten familiären Umfeld. Wie zum Henker hätte ich da eine gesunde Einstellung und erst recht eine natürliche Ausdrucksform in Bezug auf Trauer und Trauerbewältigung entwickeln sollen?
Hinzu kommt, dass ich mit Trauer Angst verbinde und das gleich auf mehreren Ebenen.
Angst in Form von Unsicherheit und Unwissenheit darüber, was mir dienlich ist und was nicht.
Trauer ist wirklich nicht meine Komfortzone wie oben aufgeführt. Ich habe für mich noch keinen Weg gefunden, sie mir dienlich fließen zu lassen und auszudrücken. Ich weiß schlichtweg nicht, was ich in diesen Momenten brauche, was mir hilft und was ich möchte. Trauer lässt mich in eine seltsame Form von freeze-Mode verfallen, indem ich mich und meine Bedürfnisse kaum spüre. Deshalb weiß ich oft einfach nicht, was jetzt grad gut tun würde und das Richtige für mich wäre, was mich unsicher macht und so einen Teufelskreis in Gang setzt… Prima.
Angst vor Schwäche.
Hier habe ich zwar schon viel aufgearbeitet und gelöst und dennoch ist ein gewisser Nachhall spürbar. Ich verbinde Trauer auf manchen Ebenen leider immer noch mit Schwäche bzw. Angriffsfläche. Bin ich traurig, bin ich verletzlich, dünnhäutig, angreifbar und kann mich weniger gut verteidigen. Trauer lähmt und blendet. So habe ich sie kennengelernt… Das sind nach wie vor Erfahrungen, die noch im System hängen und nicht vollumfänglich integriert sind.
Angst in meiner eigenen Trauer zu ertrinken.
Das bedarf vielleicht einer kurzen Erklärung. Beinahe 34 Jahre angestaute Trauer, die gefühlt und durchlebt werden möchte, fühlt sich in meinem inneren wie ein gewaltiger Mahlstrom an, der nur durch einen Damm gehalten wird. Jedes noch so kleine Beben sorgt dafür, dass mein inneres Schutzprogramm hochfährt, um ja den Staudamm aufrecht zu erhalten. Die Angst, dass dieser brechen und mich eine unbändige Flut an Tränen in einen bodenlosen Abgrund spülen könnten, ist riesig.
Angst vor Negierung.
Das ist meine aktuell größte Angst. Die Angst davor, nicht gehört, nicht gesehen, nicht ernst genommen zu werden, und dass meine Grenzen nicht wahrgenommen geschweige denn gewürdigt werden. In meiner bisherigen Welt, und hier kommt jetzt die verbrannte Erde ins Spiel, wurden meine Bedürfnisse und Grenzen entweder gar nicht akzeptiert, geschweige denn respektiert, oder nur dann gewürdigt, wenn ich sie mit eiskalter Härte, unerbittlicher Strenge verteidigt und durch rigorosen Kontaktabbruch durchgesetzt habe. Tat ich das nicht, wurde über mich hinweggegangen und eine Haltung von „ist-doch-alles-gut, sie-ist-ja-immer-noch-da“ eingenommen. Es wurde so agiert, als wäre nichts gewesen. Nichts. Mensch kehrte zum alltäglichen Tagesgeschehen zurück und besaß teilweise sogar noch die Dreistigkeit mir an den Kopf zu werfen, ich solle mich doch gefälligst nicht so anstellen, ach sei ich mal wieder überempfindlich und ach so nachtragend, sei doch alles schon längst wieder vergeben und vergessen… - so als wäre ich diejenige, der es etwas zu verzeihen gäbe. Die Co-Existenz von einer gesunden, wertschätzenden, respektvollen Verbindung beibehalten und gleichzeitig in meinen eigenen Bedürfnissen, Grenzen und vor allem in meinem Schmerz gesehen und ernstgenommen zu werden, kam bisher nicht vor.
Aktuell stehe ich an dem Punkt, dass ich nur deshalb einen kompletten Cut wähle, weil ich glaube, dass es nicht anders geht, dass ich das machen muss, dass es diesen braucht, um zu… Nicht, weil ich ihn unbedingt will.
Wie gesagt, Liebe vergeht nicht einfach von heute auf morgen. Und heute durfte ich auf sehr schmerzhafte Weise erfahren, dass der Mensch, der mich so tief verletzt hat, immer noch der Mensch ist, bei dem ich mich am Sichersten fühle - so sicher, dass ich ausgerechnet durch ihn, mit ihm, bei ihm weinen kann…
Alleine gelingt mir das nicht. Auch nicht mit meinen Freundinnen. Aber mit ihm. Das ist so traurig. Einerseits weil mir das zeigt, wie sicher und wohl ich mich mit ihm immer noch fühle und wer sehr ich ihm nach wie vor vertraue, was irgendwie nicht gesund ist. Und andererseits, weil es mir klar macht, dass hier meine Form der Abhängigkeit besteht. Aktuell scheine ich ihn zu brauchen, um trauern zu können. Ich brauche einen anderen Menschen, um meinen Emotionen Ausdruck zu verleihen? Really? Das ist für einen Menschen wie mich, für die Eigen- und Selbstständigkeit sowie Selbstbestimmung die wichtigsten Qualitäten sind, verheerend. Gleichzeitig ist es gerade wie es ist. Auch wenn es mir nicht gefällt. Ich kann auch das Schöne darin erkennen. Ich habe einen Menschen so nah an mich herangelassen und so tiefes Vertrauen aufgebaut, dass er zu meinem sicheren Hafen geworden ist. Das war bis vor einem halben Jahr noch undenkbar.
Der Wunsch mit ihm gemeinsam durch den Trennungs- und Trauerprozess zu gehen, ist immens groß und fühlt sich auch irgendwie dienlich, sogar machbar bis hin zu natürlich an. Und auch irgendwie gerecht, denn schließlich darf die Energie gerne zu ihrem Ursprung zurückkehren. Und dennoch habe ich den Schlussstrich gewählt. Ich habe die Angst gewählt. Warum? Weil ich so Angst habe sonst nicht ernst genommen bzw. negiert zu werden. Irgendwo scheine ich nach wie vor davon überzeugt zu sein, dass er es sich sonst wieder zu leicht macht und sich auf mein „immer-noch-da-sein“ ausruht, dass er die Tragweite seiner Handlungen nicht begreift, wenn ich nicht durch meine Abwesenheit klarmache, wie gravierend die Folgen sind und wie tief die Verletzung reicht. Auch hat er selbst gesagt, dass er ebenfalls glaubt, er würde sich nicht so sehr bewegen, wenn ich bleiben würde… Das macht es nicht gerade besser.
Und wieder einmal fühlt es sich so an als läge die Verantwortung bei mir. Als müsste ich einen Weg gehen, den ich eigentlich gar nicht gehen möchte. Als müsste ich etwas hochhalten, um einem höheren Zweck zu dienen. Es fühlt sich wie die Last und der Preis von Führung an und gleichzeitig wie meine Unfähigkeit zu erfühlen, was ich gerade wirklich brauche sowie mein nicht-loslassen-können. Ein unbeschreiblich unangenehmes Spannungsfeld.
Wie und wo und vor allem welche Liebe soll ich wählen? Nächstenliebe? Selbstliebe? Vertrauen? Verbindung? Was?
Ganz ehrlich, ich hab echt gar keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas tun soll und noch weniger was ich tun soll. Aktuell fühle ich mich grenzenlos überfordert mit der Gesamtsituation und damit vollkommen allein gelassen.
Wort zum Sonntag.
Gute Nacht 🌙
Liebe Ina
Deine Worte sind unfassbar ergreifend und aufwühlend. Ich bin fasziniert von Deiner messerscharfen Selbstreflexion, die Du auch noch verständlich und fühlbar rüberbringst. So tiefe und ehrliche Worte, die Gefühl und Verstand gleichermassen berühren, sind äusserst wertvoll. LG von einem ehemaligen Arbeitskollegen